Astrids Vermächtnis
Ein Wunder war es nicht, dass der alte Pfarrer Kai Schweigard und Astrid Hekne eine besondere Nähe zueinander verspüren: Astrid ist die Enkeltochter seiner großen (wenn auch unerfüllten) Liebe mit gleichem Namen und sie hat außerdem noch großes Interesse an der Geschichte ihrer Vorfahren, wie z.B. der Hekne-Zwillinge Halfried und Gunhild, die an der Hüfte zusammengewachsen waren und vor ca. 300 Jahren einen wunderschönen, ausdrucksvollen Teppich webten. Die Glocken, die deren Vater nach ihrem Tod gießen ließ, spielen ebenso eine große Rolle.
Meine Sorge, ich könnte Wichtiges aus den ersten zwei Bänden dieser Schwesterglocken-Trilogie vergessen haben, erwies sich als unbegründet – wichtige Ereignisse wurden, mit neuen Details angereichert, aufgefrischt, so dass keine Wiederholungen entstanden, aber ich wieder auf dem aktuellen Stand der Ereignisse war. (Rein theoretisch könnte also der 3. Band allein gelesen werden, das wäre möglich, aber dem Leser entginge der Genuss der vorherigen 2 Bände. Und das wäre sehr schade!)
Sehr gelungen fand ich die Schilderungen des Autors, wie unterschiedlich Menschen mit der Herausforderung der deutschen Besatzung (ab April 1940) umgingen: angefangen beim norwegischen Widerstand (Gruppe um den Flößersohn mit Astrid), viele, die sich mit der Situation arrangierten, einige, die kollaborierten (leider auch ein Hekne-Familienmitglied) und dann diejenigen, die davon profitierten (Ola Mossen und seine 2 Söhne, bei denen mir sofort der Spruch ‚Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht‘ einfiel.) Wunderschön ist jedoch auch beschrieben, wie manche in diesen schwierigen Zeiten über sich hinauswachsen.
Ja, dieses Buch hat seine Längen und manche Szenen sind brutal, aber das war der Krieg! (Das kenne ich sehr gut aus Erzählungen meiner Eltern und Großeltern!) Ich bin überzeugt, dass dies auch die volle Absicht des Erzählers war, damit, wenn auch nur ansatzweise, die Hoffnung, das ganze Grauen müsse doch mal ein Ende haben, nachvollzogen werden kann.
All die Charaktere sind sehr treffend gezeichnet, ob es die willensstarke Astrid ist, der Pfarrer, der an seinem schlechten Gewissen wegen seines Verkaufs der alten Stabkirche leidet, den dienstbaren Geistern, wie z.B. dem alten Messner und seiner Frau, der Haushälterin im Pfarrhof, dem Kraftprotz Isum mit seinem Schwarzen und der ganzen Familie auf Butangen. (Wir erfahren sogar, wie es dem englischen Familienzweig während des Krieges erging.)
Den Überblick über die ganzen Figuren in den drei Bänden und die Zusammenfassung der historischen Ereignisse, beides am Ende des Buches, empfand ich als sehr hilfreich. Die Trilogie, übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, begleitete mich seit Mai 2020 (TB-Ausgabe) und ich fühle ein wenig Wehmut aufsteigen – hat sie mir doch von Anfang an sehr gut gefallen und jetzt hat sie ein würdiges Ende gefunden. Ich kann nicht anders, als erneut 5 Sterne zu vergeben und sie allen zu empfehlen, die an wortgewaltigen und bildstarken Geschichten mit historischem Hintergrund interessiert sind.
Alle, die wie ich voller Begeisterung die ersten beiden Bände der Schwesternglockentrilogie gelesen haben, erwarteten sehnsüchtig das neue Buch des norwegischen Autors Lars Mytting, mit dem er seine Reihe um die Hekne - Schwestern und ihre Nachkommen beendet hat.
Es beginnt wie immer mit einem Rückblick ins frühe 17. Jahrhundert, zu jener Zeit, als die beiden Hekne- Schwestern lebten. Dabei wiederholt Mytting nicht nur Bekanntes, sondern fügt dem damaligen Geschehen neue Facetten hinzu. Dieses Mal geraten die Schwestern ins Visier der Kirche, die sie als „ Monstrum“ mit dem Teufel im Bunde wähnen.
Denn das Besondere an den Zwillingstöchtern Halfried und Gunhild war, dass sie an der Hüfte zusammengewachsen waren. Sie zählten zu den besten Weberinnen des ganzen Gudbrandstals und ihr Hauptwerk war jener legendäre Wandteppich, in den Prophezeiungen und das Ende des letzten Gemeindepfarrers hineingewebt wurden.
Dieser Pfarrer Kai Schweigaard tritt in allen drei Bänden auf und wird so zur zentralen Figur der Geschichte. Er kommt im ersten Band als junger fortschrittsgläubiger Pfarrer nach Butangen und verfügt, dass eine neue Kirche gebaut werden soll und lässt die alte Stabkirche von einem deutschen Architekturstudenten abbauen und nach Dresden versetzen. Aber schlimmer noch. Er veranlasst, dass die beiden Glocken, die den Schwestern zu Ehren gegossen wurden, getrennt werden. Dabei sollten sie zusammenbleiben, wie die beiden Schwestern, ansonsten drohe Unheil. Diese Schuld lastet schwer auf Kai Schweigaard.
Mittlerweile, wir sind im Jahr 1936, ist er ein alter Mann, der sich aber immer noch um seine Schäfchen kümmert. Eine besondere Verbindung besteht zum Hekne -Hof und hier vor allem zu Astrid. Sie ist die Enkelin jener Astrid, der großen, aber unerfüllten Liebe des Pfarrers.
Wie ihre Großmutter ist auch die junge Astrid eine selbstbewusste, starke Frau. Sie will genauso wenig wie ihr Bruder das väterliche Erbe antreten. Dabei haben es ihre Eltern mit sehr viel Pioniergeist und harter Arbeit zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Doch während ihr Bruder seine künstlerische Begabung entfalten möchte, strebt Astrid eine Ausbildung als Lehrerin an.
Allerdings werden die Pläne der Geschwister durch historische Umwälzungen zunichte gemacht. Im April 1940 marschieren deutsche Truppen in Norwegen ein und besetzen das Land.
Der Krieg kommt damit auch in das abgelegene Gudbrandstal. Und die SS-Organisation „ Deutsches Ahnenerbe“ interessiert sich für den mythischen Wandteppich und die in Butangen verbliebene zweite Glocke.
Astrid, die denselben Kampfgeist hat wie ihre Großmutter, engagiert sich schnell im Widerstand gegen die Besatzungsmacht. Sie setzt ihr Leben und das ihrer Familie aufs Spiel, indem sie Informationen sammelt und weiterleitet. Bis die Nazis ihr auf die Spur kommen. Um sie zu retten, greift der Pfarrer zu drastischen Maßnahmen. Das fällt ihm nicht leicht, verstößt er damit doch gegen seine Glaubensgrundsätze und riskiert nicht nur sein irdisches Leben.
Wieder verwebt Lars Mytting persönliche Schicksale mit historischen Gegebenheiten. Ist es am Anfang noch der Konflikt zwischen Tradition und Moderne, wie auch in den letzten beiden Romanen, so steht hier vor allem die Besatzungszeit und ihre Auswirkungen auf die Bevölkerung im Vordergrund. Mit Härte und Brutalität sorgen sie für eine Stimmung voller Misstrauen und Angst. Der frühere Zusammenhalt im Dorf ist dahin. Die einen schlagen sich auf die Seite der Besatzer, während andere voller Neid auf etwaige Günstlinge schauen. Wer sich auf die Seite des Widerstands stellt, muss sich permanent verstellen, muss auch seine Nächsten belügen, um diese nicht noch mehr in Gefahr zu bringen. Außerdem war niemand sicher, ob kein Verräter in den eigenen Reihen zu finden war. „ Der Krieg währte erst wenige Wochen, und wer im April noch ein Patriot war, war möglicherweise im Mai schon ein Verräter.“
Es gibt auch noch andere, die sich in den Dienst der Nazis stellen. Nicht weil sie deren Ideologie teilen, sondern weil sie vereint mit den Deutschen gegen die Bolschewiken kämpfen.
Lars Mytting hat auch in diesem Roman wieder glaubwürdige und komplexe Charaktere geschaffen. Es sind Menschen, die an den Herausforderungen, die das Leben an sie stellt, wachsen und reifen. „ Eins hat mich der Krieg gelehrt. Schwerter werden im Feuer geschmiedet und im Wasser gehärtet. Helden werden aus gewöhnlichen Menschen geschmiedet und härten tut sie das Unrecht.“ Andere wiederum sind voller Widersprüche, kämpfen mit sich und den Umständen, wie z. B. Tarald, Astrids Zwillingsbruder. Und der Leser lebt und leidet mit ihnen mit.
Doch neben der zeitgeschichtlichen Realität nimmt auch wieder der große Mythos um die Schwesternglocken und dem sagenhaften Wandteppich breiten Raum ein.
All das entfaltet Mytting mit seiner großen Sprachmacht. Bilderreich und detailliert entwirft er Szenen voller Atmosphäre und zieht so den Leser in seinen Bann.
Hat der Roman in der Mitte einige Längen, so gewinnt er gegen Ende hin wieder an Tempo und Spannung. Gekonnt führt der Autor die meisten Fäden am Ende zusammen. Dass hier ein paar Lücken bleiben müssen, ist der Fülle an Personen und Geschehnissen geschuldet.
Lobenswert ist der mehrere Seiten umfassende Überblick über die wichtigsten Figuren, Tiere und Gegenstände, die in allen drei Romanen eine wesentliche Rolle spielen. Ebenso die kurze Zusammenfassung über die historischen Hintergründe der deutschen Besatzung Norwegens; beides am Ende des Buches zu finden.
Auch wenn sich der Roman ohne Vorkenntnisse lesen lässt, empfehle ich die Bücher in ihrer Reihenfolge zu lesen. Erst dann wird man alle Zusammenhänge verstehen und kann völlig in diese Welt eintauchen.
Trotz kleiner Kritikpunkte halte ich „ Astrids Vermächtnis“ für einen würdigen Abschluss der Trilogie; Lars Mytting hat einen gewaltigen Teppich voller Bilder und Geschichten gewebt.
1936, im norwegischen Butangen: Die junge Astrid Hekne ist fasziniert von der Geschichte ihrer Vorfahren. Mehr als 300 Jahre sind mittlerweile vergangen, seitdem die an der Hüfte zusammengewachsenen Hekne-Schwestern Halfrid und Gunhild ihren legendenumwobenen Wandteppich gewebt haben sollen. Doch existiert dieser wirklich? Unbestritten ist die Existenz der Schwesterglocken, die an die beiden erinnern sollen. Noch immer läutet eine in Dresden, die andere befindet sich in der Kirche Butangens unter der Obhut von Pfarrer Kai Schweigaard. Doch aus dem nationalsozialistischen Deutschland mehren sich die Interessen, die Glocken in Dresden als ein Symbol der nordischen Kultur zusammenzuführen. Etwas, das Kai unter allen Umständen verhindern möchte...
"Astrids Vermächtnis" ist der dritte und letzte Teil der sogenannten "Schwesterglocken-Trilogie" von Lars Mytting, der jüngst in der deutschen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel im Insel Verlag erschienen ist. Für viele Freund:innen der norwegischen Literatur düfte der Titel einer der meisterwarteten in diesem Jahr sein. In seiner Erzählweise und Struktur erinnert er an die beiden Vorgänger "Die Glocke im See" und "Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund", kann aber deren - allerdings auch überragende - Qualität nicht ganz halten.
Erstaunlich ist vor allem die strukturelle Ähnlichkeit zum "Rätsel": Einer Einführung über die beiden Urcharaktere Gunhild und Halfrid folgt ein langsamer, abermals hervorragend und farbenfroh erzählter Teil über das Erwachsenwerden der mittlerweile dritten Astrid Hekne und eine intensive Auseinandersetzung mit den weiteren zentralen Figuren. Mit der deutschen Besetzung Norwegens beginnt ein langer Teil, der an Tempo und Brutalität verständlicherweise zunimmt, ehe eine Art episch-poetischer Epilog "Astrids Vermächtnis" nach 650 Seiten zu einem halbwegs würdigen Ende bringt.
In der ersten Hälfte des Buches zieht Mytting einmal mehr alle Register seines erzählerischen Könnens. Ein zentrales Thema ist dabei erneut der Konflikt zwischen Tradition und Moderne, der sich wie ein roter Faden durch alle Teile der Trilogie zieht. Die Familie Hekne nimmt dabei eine Art Vorreiterrolle ein, die nicht von allen Dorfbewohner:innen gern gesehen wird. Gelungen ist Mytting zudem auch wieder die Figurenzeichnung. Die wohl spannendste Figur ist Astrids Bruder Tarald, die Mytting mit einer bemerkenswerten Ambivalenz ausstattet. Tarald ist eine sensible Künstlerseele, als angedachter Hoferbe aber ein Versager. Zudem bewegt er sich nahezu ständig auf dem schmalen Grat zwischen liebendem Bruder und potenziellem Verräter.
Während mich die erste Hälfte des Romans abermals komplett in ihren Bann ziehen konnte, kann die zweite Hälfte qualitativ leider nicht mithalten. Zwar ist der Widerstandskampf der jungen Astrid durchaus spannend erzählt, doch wirkt es so, als sollten unbedingt alle Figuren des Vorgängerbandes noch einmal auftauchen. Völlig aus dem erzählerischen Konzept bringen einen beispielsweise die Schwenke nach England, wo Astrids Onkel Victor und seine zwei Söhne Edgar und Alastair sich ebenfalls auf den Zweiten Weltkrieg vorbereiten. Der größte Kritikpunkt ist aber der Umgang mit der zentralen Figur der Trilogie: Kai Schweigaard. Schweigaard ist mittlerweile ein Greis, dessen Amtszeitsende nur durch den Ausbruch des Krieges verhindert wird. Mytting macht aus ihm eine Art Helden, was einerseits völlig in Ordnung ist, weil keine andere Trilogiefigur in der Gunst der treuen Leserschaft so weit oben stehen dürfte. Auf der anderen Seite ist dessen finale "Heldentat" zutiefst unmoralisch und wird dem Charakter nicht gerecht. Ein regelrechtes Ärgernis! Und auch andere Charaktere warten vergeblich auf ein würdiges Ende. So erfahren wir tatsächlich erst in einer Art Personenregister ganz am Ende des Buches, was beispielsweise aus Tarald geworden ist. Astrid Heknes Bruder ist in "Astrids Vermächtnis" eine durchaus bedeutsame Figur, die aber irgendwann einfach völlig aus der Handlung verschwindet.
So ist "Astrids Vermächtnis" in seiner Gesamtheit ein Roman, der die Fans der Schwesterglocken zwar nicht enttäuschen sollte, gerade im Vergleich zum "Rätsel auf blauschwarzem Grund" aber etwas hinter den Erwartungen zurückbleibt.
3,5/5
Ein stimmiger Abschluss für eine großartige Triologie
"Astrids Vermächtnis" ist der letzte Band aus der dreiteiligen Reihe des norwegischen Schriftstellers Lars Mytting. Leider, möchte man gleich einwerfen, denn diese Reihe kann einem sehr ans Herz wachsen.
Wir begleiten den Pfarrer Kai Schweigaard durch seine über 60jährige Amtszeit in der Gemeinde Butangen. Die Entwicklung, die die Figur bis zu diesem letzten Band mitmacht, ist sehr vielschichtig.
Der Band spielt in der Zeit der deutschen Besatzung Norwegens. Und die Deutschen wollen endlich die zweite der Schwesternglocken nach Dresden bringen. Astrid, die Tocher von Jehans und Kristine, den Hauptpersonen aus Band zwei, will dies mit der Hilfe von Kai Schweigaard verhindern. Ob dies gelingt, verrate ich natürlich nicht.
"Astrids Vermächtnis" hat noch einmal gut einhundert Seiten mehr als die ersten Bände. Ich hatte das Gefühl, der Autor wollte sich nicht so leicht von seinen Figuren trennen und hat deshalb noch etwas ausschweifender erzählt. Das liest sich teilweise etwas zäher als die Vorgänger Bände, aber dadurch auch intensiver.
Ich habe alle Bände sehr gerne gelesen. Die Landschaft- und Architekturbeschreibungen sind wirklich sehr eindrucksvoll und machen Lust auf Norwegen.
Auch dieses Buch kann ich einfach nur weiterempfehlen, aber man sollte definitiv erst die Vorgänger gelesen haben.